Viele Menschen in Deutschland, die vor 1976 geboren wurden, haben eine kleine kreisrunde Narbe am Oberarm. Dieses individuelle Merkmal weist die Träger als Zeugen einer der größten und erfolgreichsten Impfkampagnen der Geschichte aus, dem Kampf gegen die Pocken.
Die Menschheitsgeschichte ist von Seuchen geprägt. Schon seit Jahrtausenden fordern hoch ansteckende, tödliche Infektionskrankkrankheiten immer wieder unzählige Menschenleben. Eine dieser tödlichen Krankheiten sind die bereits im Alten Testament erwähnten Pocken. Die Erkrankten leiden zunächst an hohem Fieber, Schüttelfrost, Kopf- und Rückenschmerzen sowie einer Rachenentzündung. Im Anschluss treten dann die typischen Hauterscheinungen, die Pocken, auf. Rund 30 Prozent der Erkrankten versterben an einer Pockeninfektion. Die Überlebenden sind ihr Leben lang durch Narben entstellt.
Erste Impfversuche
Ein Heilmittel gegen die Pocken konnte bis heute nicht gefunden werden. Dafür aber ein Impfstoff. Menschen bemerkten, dass sie nach einer Pockeninfektion immun waren und kein zweites Mal erkrankten. Aus diesem Wissen entstanden erste einfache Impfungen. Das Ziel: Menschen durch die Gabe eines Impfstoffes vor einer Erkrankung zu schützen. Im China des 16. Jahrhunderts kannte man beispielsweise die Methode, den zerriebenen Schorf der Pocken zu schnupfen. Nach ihrem Aufenthalt in Osmanischen Reich zwischen 1716 bis 1718 berichtete die englische Adlige Mary Wortley Montagu von der dort weit verbreiteten Variolation. Hierbei wurde einem Gesunden etwas Flüssigkeit aus den Pockenbläschen eines mit milden Symptomen Erkrankten eingeritzt. Durch Lady Montagu fand die Variolation ihren Weg nach Europa. Ganz ungefährlich war diese Art der Impfung jedoch nicht. Menschen konnten dabei durchaus schwer erkranken und versterben.
Der Durchbruch
Das Zeitalter der modernen Impfung begann 1796. Der englische Landarzt Edward Jenner wusste, dass Bauern nur Milchmägde einstellten, die bereits als Kinder eine Pockenerkrankung durchgemacht hatten. Der Grund: Sie waren bereits gegen die beim Menschen relativ milden Kuhpocken immun und fielen nicht tagelang mit Fieber bei der Arbeit aus. Edward Jenner kam eine Idee. Was, wenn eine Infektion mit Kuhpocken auch andersherum immun gegen die tödlichen Pocken machen würde? Um seine Theorie zu überprüfen, ritzte er dem achtjährigen Sohn seines Gärtners eine Wunde in die Haut und infizierte diese mit dem Sekret einer an Kuhpocken erkrankten Milchmagd – eine nach heutigen Maßstäben ethisch hoch fragwürdige Vorgehensweise. Der Junge entwickelte leichte Symptome und erholte sich rasch. Nach mehreren Wochen begann der entscheidende und potenziell gefährlichere Teil des Experiments. Jenner infizierte den Jungen mit Pocken. Doch dieser blieb gesund. Er war immun und die Pockenschutzimpfung geboren.
Edward Anthony Jenner (1749-1823) ©bilgihanem.com
Rückschläge
Jenner triumphierte und versprach eine baldige Ausrottung der Pocken. So schnell ging es aber nicht. Trotz der Verbreitung von Jenners sogenannter „Vaccination“ (vom lateinischen vacca = Kuh) in ganz Europa war ein Grund die Impfskepsis in der Bevölkerung. Eine Impfung war etwas völlig Neues. Zuvor hatten Mediziner immer versucht, Erkrankte zu heilen. Geimpft wurden nun aber Gesunde. Zeitgenossen sahen die „Vaccination“ als etwa Unnatürliches an. Zudem war die Impfung mit den Kuhpocken durchaus nicht immer nur harmlos. Neue Nahrung erhielt die Impfskepsis als neue Pockenwellen auftraten. Erst allmählich setzte sich die Erkenntnis durch, dass der Impfschutz nicht ein Leben lang anhält und aufgefrischt werden muss.
Erfolgsgeschichte…
Dennoch war Jenners Pockenimpfung ein großer Erfolg, der unzähligen Menschen das Leben rettete. Das erkannte auch die Politik. 1807 führte das Königreich Bayern als erster deutscher Staat eine Pockenimpflicht ein. 1874 wurde die Pockenimpfung in ganz Deutschland verpflichtend. Zuvor waren hunderttausende Menschen in Westeuropa während und kurz nach dem Deutsch-französischen Krieg (1870/71) an den Pocken gestorben. Das im Reichstag verabschiedete Gesetz rief Widerspruch unter den Impfgegnern hervor. Sie zweifelten die Wirksamkeit der Impfung an und forderten stattdessen eine Verbesserung der sozialen Lebensbedingungen.
Die Impfstoffforschung machte im Laufe der Jahre ständig Fortschritte. Weitere Impfstoffe folgten – gegen Tollwut, Cholera, Typhus, Kinderlähmung, Tetanus und viele andere Infektionskrankheiten, die in der Folge zu seltenen Krankheiten wurden. Den letzten Pockenfall in der Bundesrepublik Deutschland gab es 1972 in Hannover. Vier Jahre später wurde die Pockenimpflicht in Westdeutschland aufgehoben. 1980 erklärte die WHO die Pocken, eine jahrtausendealte Geißel der Menschheit, für ausgerottet. Ohne die Impfung wäre dies nicht möglich gewesen.
Impfung per Spritze hat eine Geschichte. © Markus Spiske
…mit einer Schattenseite
Doch die Erfolgsgeschichte hat auch eine Schattenseite. In den Anfangsjahren der Impfungen kam es durch unsaubere Laborarbeiten und Produktionsfehler zu Todesfällen, so etwa beim sogenannten Lübecker Impfunglück, dem größten dieser Art im 20. Jahrhundert, als 77 Babys nach einer Tuberkulose-Impfung starben. Moderne Impfungen sind sehr sicher, Impfkomplikationen- und schäden selten. Aber es gibt sie. In den 1960er Jahren führte jede 30.000ste Pockenimpfung zu schweren gesundheitlichen Schäden. Und 2009 erkrankten Kinder und Jugendliche nach einer Impfung gegen die sogenannte Schweinegrippe an Narkolepsie (neurologische Störung des Schlaf-Wach-Rhythmus). In den klinischen Studien wurde die Nebenwirkung zuvor nicht gefunden. Bei einer millionenfachen Impfung haben diese Fälle statistisch einen absoluten Seltenheitswert. Doch für die Betroffenen und ihre Angehörigen sind sie eine schmerzhafte Realität.
Allgemeinwohl vs. Individuum
Bei der Frage nach der Impfung steht daher auch immer die Diskussion zwischen dem Wohl der Allgemeinheit und dem Individuum im Raum. Politiker und Wissenschaftler beziehen hierbei überwiegend eine deutliche Position. Sie haben das große Ganze im Blick. Statistisch gesehen sind Impfungen ein großer Erfolg und retten zahllose Menschenleben. Ob die Spritze im Einzelfall jedoch mehr nützt als schadet, lässt sich nicht garantieren. Diese Ungewissheit gibt es freilich auch im Falle einer Erkrankung.
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