Hochsensibilität wird zunehmend bekannter und das Verständnis dafür wächst. Hochsensible Menschen haben eine feine Wahrnehmung, sind häufig „dünnhäutiger“ als andere, verarbeiten Reize langsam und gründlich und geraten deswegen leicht unter Stress – mit allen Konsequenzen, die dies haben kann.
Dass hochsensible Menschen – immerhin etwa 15% der Bevölkerung – so wie sie sind, „richtig“ sind und sich nicht an eine Mehrheitsnorm anzupassen haben, sondern ihren eigenen Weg finden und gehen dürfen und gerade in ihrer Empfindsamkeit und Authentizität eine Bereicherung der Welt sind, wird allmählich gesehen und akzeptiert.
Hochsensibilität – was ist das eigentlich genau?
Hochsensible Menschen nehmen vieles intensiver wahr, verarbeiten Eindrücke langsam und gründlich und kommen so schneller an ihre „Überreizungsgrenze“, erleben also früher als andere Stress. Während sie noch mit der Verarbeitung von Reizen beschäftigt sind, dringen schon neue Eindrücke in sie ein, die sie nicht abwehren können. Diese Überstimulation kann sie überfordern und auch verunsichern. Das geht oft mit dem Grundgefühl einher, „irgendwie“ nicht in Ordnung zu sein, es nicht zu schaffen, anders sein zu sollen, sich anpassen zu müssen – aber genau dies nicht zu können. Das kann erneut Stress auslösen und in einen Teufelskreis münden, da hochsensible Menschen zu dieser Welt dazugehören möchten und tiefen und echten Kontakt mit anderen sehr schätzen – und auch brauchen!
Dennoch ist Hochsensibilität keine Krankheit oder Diagnose – auch wenn sie für die Hochsensiblen selber oft eine große Herausforderung darstellt. Sie ist auch ein Geschenk, das durch intensives Wahrnehmen und Fühlen ein reiches, tiefes und erfüllendes Leben ermöglicht. Wenn sie in Kreativität, Beziehungen und positive Handlungen mündet, kommt sie allen zu Gute. Viele Künstler, Wissenschaftler und Menschen, die durch ihre Intuition, Kreativität, ihr soziales Engagement und ihre Liebe der Welt etwas schenk(t)en, sind oft hochsensibel.
Hochsensibilität ist in der Regel angeboren. Sie kann in einigen Fällen auch erworben sein (durch entsprechende Lebenssituationen oder Traumata). Hochsensibilität ist so etwas wie Linkshändigkeit – eine angeborene Eigenschaft, die in manchen Situationen eher unpraktisch, in anderen genau richtig und passend für das ist – wenn es bspw. um die feinfühlige Einschätzung einer Situation geht.
Wie uns Hochsensibilität im Alltag Begegnet
Hochsensible sind in der Regel an Kontinuität orientiert und brauchen ihre Struktur. Sie wollen die Übersicht behalten und mögen kein Chaos, fühlen sich leicht verantwortlich und nehmen dann gern die Verantwortung zu sich. Damit überfordern sie sich oft. Tendenziell sind sie vorsichtig und umsichtig.
Sie haben ein soziales Gewissen und zeigen Mitgefühl – Not und Elend in der Welt gehen ihnen schnell nah. Hochsensible können sich gut in andere hineinversetzen, sind demzufolge zumeist sehr mitfühlend und haben ein empfindsames Gewissen. Sie denken für alle mit. Doch schnell ist die Reizgrenze erreicht. Ihr System ist dann rasch aus dem Lot zu bringen. Leistungsdruck oder Kritik tun ihnen in der Regel nicht gut. Etwas, was man allerdings kaum erwarten würde: Hochsensible sind in Ausnahmesituationen extrem belastbar – einfach weil sie diesbezüglich gut trainiert sind und immer dann in ihre Kraft kommen, wenn es um die wesentlichen Dinge im Leben geht. Hochsensible Menschen brauchen ihren gestaltbaren Eigenraum, um sich gut zu fühlen. Rückzug und Pausen sind wichtige Faktoren bei der Regeneration. Es kostet sie manchmal Energie, aus ihrer Welt herauszutreten und mit Anderen Kontakt aufzunehmen.
Immerhin 15% der Bevölkerung gelten als Hochsensibel ©pixabay
Beziehung und Partnerschaft
Hochsensible brauchen das richtige Maß an Bindung und Freiheit. Meist gibt es einen großen Wunsch nach Nähe und Verschmelzung und gleichzeitig ein starkes Autonomiebedürfnis. Da kommt manchmal eine Idealisierung eines potentiellen, aber noch fernen Partners ins Spiel. Manche Hochsensible verlieben sich nur schwer, andere ganz leicht und immer wieder heftig.
Hochsensible brauchen es, immer wieder in die Autonomie gehen zu können, um dadurch ihre Batterien (vom „Typ Freiheit“) aufzuladen.
Dann brauchen sie wieder große Nähe und laden dadurch ihre Batterien vom „Typ Bindung“ auf – zumeist gern mit wenigen Menschen und im Zweiersetting oder in vertrauten kleinen Gruppen. Feste, große Gruppen und Menschenaufläufe werden von Hochsensiblen eher gemieden. Aber als Freunde und Partner erleben und geben sie Bindung als Basis für Freiheit und Wachstum – da sind sie auch sehr verlässlich.
Manche Hochsensible scheinen sich schwer auf eine Beziehung einlassen zu können – weil sie um ihr Eigenraumbedürfnis wissen. Für Partner von Hochsensiblen ist es wichtig, darum zu wissen und ihre eigenen Autonomieräume zu pflegen.
Praktisches für den Umgang mit Stress
Das A und O ist es, Stress zu vermeiden oder zu reduzieren. Das Leben eines Hochsensiblen kann sich manchmal zentral darum drehen, wie er Stress vermeiden oder bewältigen kann. Mögliche Strategien können unter anderem sein: laute, wuselige Orte und Menschengruppen meiden, sich immer wieder zurückziehen und Pausen einlegen, sich in der Natur und frischer Luft bewegen, in die Stille gehen und sich zu zentrieren. Darüber hinaus zu üben, Reizen zu widerstehen – nicht jede Zeitung, die da liegt, lesen; in der Stadt nicht allen Menschen ins Gesicht schauen etc. Es geht immer darum, die Reize zu dosieren bzw. zu minimieren und Räume für Regeneration zu schaffen.
Wesensart
Hochsensibilität ist eine Wesensart, die sich kreativ und sinnlich, ganzherzig und leidenschaftlich äußern möchte und gelebt werden will. Hochsensible Menschen suchen über den äußeren Sinn und Platz im Leben zumeist einen inneren Sinn und haben ein tiefes Bedürfnis nach Verbundenheit mit der „Quelle“ – was immer das für sie ist. Die große Herausforderung für sie ist, sich auf das Leben ganz einzulassen und selbstbewusst ihre reichen inneren Gaben einzubringen. Hochsensible sind eine Bereicherung für die Welt und werden gerade in diesen Zeiten dringend gebraucht! Ihr Wesen zielt auf Verbindung, Frieden und Harmonie.
Enno Kastens, Autor des Artikels und Experte für Hochsensibilität. © Enno Kastens
Enno Kastens
Geboren 1967 in Niedersachsen; Kindheit und Jugend auf dem Lande mit allem, was dazugehört – plus Klavierspiel und Büchergroßverbrauch.
Nach dem Abitur Musikstudium mit musikpädagogischem und künstlerischem Abschluss (Diplom-Musikpädagoge, Künstlerische Reife).
Erweiterung der Grundkenntnisse in Haushalts- und Freundschaftsführung.
Beraterausbildung 2001 bis 2007 am Carl Rogers-Institut Freiburg (GwG/C.R.I.F.).
Hier erlernte und vertiefte er den klientenzentrierten Ansatz und wurde durch seine Ausbilder Dipl. Psych. Ludwig Sträßle und Prof. Dr. Werner Rück geprägt.
Seitdem aktive Beratungstätigkeit.
Weiter- und Fortbildungen im systemischen Bereich (u.a. bei Dipl. Psych. Thomas von Stosch, Weinsberg und Dipl. Psych. Arnold Retzer, Heidelberg).
Wichtige Bausteine in seiner Arbeit sind: die Arbeit mit inneren Anteilen, Traumaarbeit, Gewaltfreie/Wertschätzende Kommunikation, Hochsensibilität, Arbeit mit Gefühlen.
Regelmäßige Intervision (Intervisionsgruppe mit KollegInnen).
Im Lauf seiner Beratungstätigkeit haben sich Schwerpunkte im Bereich Paarberatung, Einzelberatung und Supervision entwickelt.
Tätigkeit als Paarberater bei pro familia Lörrach seit 2010.
Freiberuflicher Paarberater und Supervisor in Freiburg und Umgebung.
Enno Kastens lebt mit seiner Familie in Freiburg, liebt die Stille, Gartenarbeit und Wanderungen in der Natur, gute Gespräche und ausgelassenes Spielen.
Lebensmotto (mittlerweile): „Lieber ein lässiges Streben als ein stressiges Leben.“
Discussion about this post