Menschen befinden sich während ihres Lebens in einem ständigen Hin und Her zwischen Gesundheit, Unbehagen und Krankheit. Den Prozess der Gesundung können sie fast alle selbst fördern. Doch die moderne Medizin ignoriert diesen Umstand zumeist.
In der letzten Ausgabe hatte ich abschließend die Frage gestellt, was wir unter einer guten Physiotherapie verstehen bzw. verstehen sollten.
Dazu scheint es mir sinnvoll zu sein, zunächst einige grundsätzliche Dinge anzusprechen.
Wir denken meist, dass es in allen Bereichen der Medizin um Gesundheit und/oder Krankheit geht. Nach der Definition der WHO (Weltgesundheitsorganisation) ist Gesundheit „ein Zustand vollständigen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit oder Gebrechen“. Mein Eindruck bei einer solchen Definition ist der, dass es danach ziemliche viele Kranke gibt – denn wer kann von sich behaupten, dass bei ihm alles „im grünen Bereich“ liegt?
Hin und Her zwischen Gesundheit, Unbehagen und Krankheit
Es war der israelisch-amerikanische Soziologe Aaron Antonovsky, der Ende der 1970er Jahre das Modell der SALUTOGENESE vorstellte. Vereinfacht ausgedrückt beschreibt er unser Leben als ein ständiges Hin und Her, ein „Kontinuum“ zwischen Gesundheit, Unbehagen (ich nenne es gerne „Befindlichkeitsstörung“) und Krankheit. In einem, wie ich finde, eindrucksvollen Bild ausgedrückt: wir schwimmen alle im Fluss des Lebens, mal in ruhigem Fahrwasser, mal in Stromschnellen. Manchmal drohen wir auch zu ertrinken – und in dieser Situation ist es Aufgabe der Medizin, das Schwimmen zu beüben, also die Menschen vor dem Ertrinken zu bewahren, indem sie lernen, besser zu schwimmen. Und in den Fällen, in denen wirklich jemand „ertrinkt“, also schwer erkrankt ist, bedarf es auf jeden Fall der lebensrettenden Medizin.
Aufzeigen, welches Potential in einem Menschen steckt
Leider ist unsere moderne Medizin sich dieser unterschiedlichen Aufgaben oft nicht oder zu wenig bewusst. Sie meint im vorgenannten Sinne, Schwimmer durch den Einsatz von möglichst vielen Rettungsbooten retten zu müssen. Auch da, wo jemand noch gar nicht in „Seenot“ geraten ist. Man ängstigt dann die Schwimmenden und erklärt ihnen, dass sie Hilfe benötigen – weil Laborwerte oder weil Röntgen- oder Kernspinbilder nicht einer wie auch immer definierten Norm entsprächen. Das nennt man PATHOGENESE, Krankmachen, um vermeintliche Krankheiten behandeln zu können. Anstatt den Menschen zu zeigen und zu sagen, welches Potential in ihnen steckt, das sie befähigt, noch besser/sicherer schwimmen zu können. Denn die Fähigkeiten, den Prozess der Gesundung selbst zu fördern, hat von wenigen Ausnahmen abgesehen (fast) jeder. Man muss nur daran erinnert werden oder Wege aufgezeigt bekommen. Salutogenese! Neben dem Verständnis seitens der Ärzte, dass es mehr als Pathogenese gibt, sind aber auch Voraussetzungen seitens der Menschen für ein gutes Gelingen einer Salutogenese gefragt. Da ist einmal das Verständnis dafür, dass immer wieder einmal auftretende Belastungen ganz normal sind und zum anderen sollte man grundsätzlich um das Potential wissen, dass und wie man diese Belastungen verarbeiten kann. Und man muss wissen oder fühlen, welchen Sinn es hat, Energie und Engagement in eine Maßnahme zu stecken – z.B. die Muskeln zu trainieren.
Sinnlose Operationen
Um nicht missverstanden zu werden: Saluto- und Pathogenese haben ihren Stellenwert, denn in aller Regel sind wir nicht gesund oder krank, sondern wir befinden uns irgendwo dazwischen. Mal mehr gesund, mal auf dem Weg zu Krankheiten. Rücken – oder Schulter- oder Knieschmerzen sind primär fast nie Krankheiten, auch wenn Begriffe wie Arthrose, Impingement oder Syndrom dies suggerieren (sollen). Ein 80jähriger, dem sein Knie plötzlich ohne Grund weh tut, hatte seine Arthrose auch schon viele Jahre davor. Aber da tat sie nicht weh, obwohl sie vorhanden war. Und was machen wir: wir glauben, dass wir auf Bildern sehen können, warum etwas schmerzt. Und die vermeintlich logische Konsequenz ist dann die einer Operation, bei der man wegschneidet, was da angeblich nicht hingehört. Logik? Es geht doch eigentlich um nichts anderes als um Lebensqualität, also um das Fehlen von Schmerzen, um eine altersgemäß gute Funktion (Beweglichkeit) und das Ganze eingebettet in ein gutes soziales Umfeld und Sinnhaftigkeit.
Was bedeutet dieses Modell nun für die Physiotherapie? Während Ärzte gelernt haben, strukturell zu denken, haben die Physiotherapeuten sich in der mehrjährigen Ausbildung intensiv um die Funktion, also um den Bewegungsapparat gekümmert. Wobei ich den Ausdruck „Apparat“ überhaupt nicht mag. Suggeriert er doch, dass wir es beim menschlichen Körper mit einem mechanischen Gebilde zu tun haben, vergleichbar mit einer Maschine, einem Auto oder mit der Hardware eines PC. Natürlich spielt die (Bio-)Mechanik eine Rolle. Aber wir alle wissen, welchen Einfluss die seelische Verfassung auf unseren Körper hat oder haben kann. So weiß man, dass etwas 50% der „unspezifischen“ Rückenschmerzen, die ohne Fieber, Lähmungen oder andere schwerwiegende Symptome einhergehen, stressbedingt zu erklären sind. Was wird gemacht? Bilder und Laborwerte bei Ärzten und „Einrenken“ von Ärzten oder Physiotherapeuten, obwohl nichts ausgerenkt ist und auch gar nicht sein kann. Warum ist das so? Warum ist die Medizin nicht so ausgerichtet, dass sie schaut, welche individuellen Ressourcen die Menschen haben, die in Not sind? Die meisten von Ihnen werden mir zustimmen, wenn ich sage: es ist die Ökonomisierung der Medizin, die Macht des Geldes. Zumindest in weiten Bereichen der Medizin ist das so. Aber gilt das auch in der Physiotherapie?
Natürlich geht es in der Physiotherapie (wie in allen Berufen) auch ums Geld. Aber auf einem völlig anderen Niveau als in anderen Bereichen der Medizin. Sie verzeihen mir den Vergleich von Äpfeln und Birnen: ein MRT der LWS kostet für Selbstzahler in etwa 600,- Euro. Ein Berufsanfänger in der Physiotherapie (der oft mehr als 12.000,- Euro für seine Ausbildung selbst bezahlt hat) verdient netto oft nicht mehr als 1.300,- Euro. Es ist also mehr als verständlich, wenn die Physiotherapeuten seit Jahren auf Missstände in ihrer Vergütung hinweisen. Im vergangenen Jahr war das nach langen Verhandlungen von einem gewissen Erfolg gekrönt. Aber: es ist noch viel Luft nach oben.
In der nächsten Folge möchte ich mich mit den Inhalten physiotherapeutischer Maßnahmen auseinandersetzen. Bis dahin: BLEIBEN SIE GESUND!
Unser Autor: Prof. Dr. med. Martin Klein
Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, Sportmedizin, Rehabilitationswesen
Studienortleiter, Dozent der ISBA / Angell Akademie Freiburg
FACHGEBIET:
Experte für Gesundheitsmanagement mit 37 Jahren Berufserfahrung und täglichem Umgang mit fremden Menschen als Facharzt:
- Präventologe
- Referent / Netzwerker – Zusammenführen von Kompetenzen
- Konzeptentwicklung individueller Lösungen / Projektbegleitung
- Arbeitsplatzergonomie / Raumkonzepte / Vor Ort Betreuung
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